Pfingsten 2021 – der Corona-Winter hatte uns viel zulange eingesperrt – dementsprechend groß war der Drang die Landesgrenzen wieder zu durchbrechen. Die Großwetterlage spielte im gesamten Alpenraum schon seit längerem verrückt. Was lag näher, als endlich wieder in den Süden zu flüchten? Dazu verstaubte der Kletterführer schon ewig unangetastet im Regal. Die Zeit war reif für „Muzzerone“ …
Es war nicht zu übersehen: mit der wiedergewonnenen Reisefreiheit füllten sich die Autobahnen schlagartig mit Wohnmobilen und die Campingplätze waren in den „Cinque Terre“ in kürzester Zeit ausgebucht. Zum Glück waren wir nicht darauf angewiesen: wir wollten nach Muzzerone, so weit wie möglich zu den Klettergebieten hinauf. Von La Spezia führte eine Uferstraße nach „Le Grazie“, danach ging es über holprige Serpentinen zum „Forte Muzzerone“, 400 Meter über dem Meer gelegen. Wo sind wir hier nur gelandet? Es war einfach paradiesisch: nach allen Seiten der Blick auf die Riviera di Levante, T-Shirt-Wetter, satter Blütenduft und viel Ruhe fernab der überfüllten Autostraßen. Der Urlaub nahm langsam Gestalt an: in diesem Kleinod wollten wir bleiben, solange bis die freien Tage wieder zu Ende gingen …
Unter der alten Festung von Muzzerone gibt es ein paar Bänke und Holztische, wo wir unser Quartier aufschlugen. Mit der Ruhe war es dann allerdings doch nicht so, wie ursprünglich erhofft. Immer wieder tauchten da urlaubende Typen mit teils uralten Kisten auf (ein Wunder, dass sie die Schlaglöcher überstanden), und mit dem Klettern wenig am Hut hatten. Das Handy macht’s möglich: sie folgten der App „Park for night“, die sie an diesen idyllischen Ort führte, um ungestört, umsonst und draußen zu übernachten. Immerhin waren die Begegnungen ausnahmslos nett und wir wünschten ihnen am nächsten Morgen eine gute Weiterfahrt …
Das „Forte Muzzerone“ ist der Ausgangspunkt für die meisten Sektoren in diesem weitläufigen Klettergebiet, das sich auf der gleichnamigen Halbinsel befindet. Der Kletterführer beschreibt die Zustiege rudimentär für geübte Pfadfinder, somit war unser Orientierungssinn auf die Probe gestellt. Das Klettergebiet ist kaum bis gar nicht beschildert, wir tasteten uns ran und mit mehr oder weniger Sucherei gelangten wir dann in den jeweiligen Wunschsektor. Mit der Zeit reimte sich das Puzzle zusammen. Nach einer kurzen Wanderung gelangt man dabei oft über Fixseile zu den Routen hinab, die sich meist ein gutes Stück über dem Meer befinden. Es ist schon bemerkenswert, welchen Aufwand die Erstbegeher hier betrieben: am gesamten Küstenstreifen wurden zahllosen Routen erschlossen, und manche Sektoren sind oft nur schwer zugänglich.
Für die Italiener ist Muzzerone ein traditionelles Revier, das im deutschsprachigem Raum (verglichen mit den Modegebieten wie Arco, Finale oder Sperlonga) weniger bekannt ist. Viele gängige Routen wurden mittlerweile vorbildlich saniert, dennoch ist das gesamte Ambiente, vor allem was die Zustiege betrifft, nach wie vor abenteuerlich angehaucht. In einigen Mehrseillängen-Touren steckt immer noch das alte Material der Erstbegeher, welches durch die salzige Meeresluft im Laufe der Zeit rostig wurde. Der Fels ist überwiegend sehr kompakt: es handelt sich um einen marmorähnlichen Kalk, der in der Gegend für den Haus- und Terassenbau industriell abgebaut wird. So können die plattigen Kletterpassagen manchmal ganz schön glatt sein …
Die Felsmassive bieten eine Vielzahl von Routen in allen Schwierigkeitsgraden und Stilen, der über Platten, Verschneidungen, Überhänge oder senkrechten Wänden reicht. In den 25 Sektoren gibt es zahllose, gut abgesicherte kurze Linien aber auch lange und alpin angehauchte Wege. Die mittleren Schwierigkeitsgrade 5c bis 6b überwiegen in Muzzerone.
Es sind aber nicht nur die Kletterrouten, was dieses Gebiet so attraktiv macht. Da gibt es einen Wanderweg, der die ganzen Cinque Terre durchzieht. Vom Forte Muzzerone steigt man in einer Dreiviertelstunde zu einer Meeresenge hinab und erreicht den malerischen Hafenort „Porto Venere“, siehe www.cinqueterre.eu.com. Hier wird der klassische Mittelmeer-Urlaub gelebt: es gibt mittelalterliche Festungen, enge Gassen, zahllose Restaurants, Bars und Souvenierläden. Es kann auch gebadet oder eine Bootstour unternommen werden, um die Felsen von Muzzerone vom Meer aus zu betrachten. Und man beachte: In Porto Venere befindet sich das Grab des legendären Erstbegehers Walter Bonatti. Die Alpinisten unter uns, werden es sich nicht verpassen, ihn auf dem Friedhof zu besuchen. Etwas kürzer ist der Abstieg zum idyllisch gelegenen „Rifugio Muzzerone“, das sich ebenfalls zur Einkehr oder sogar Übernachtung anbietet.
„Weiße Felswände direkt über dem blauen Meer grenzen nahezu unvermittelt an den Küstenstreifen mit dem UNESCO-Weltkulturerbe Cinque Terre. Der Blick streift von Porto Venere über die Insel Palmaria bis zu den Aquanischen Alpen und nach Korsika hinüber. Möwen kreisen am Himmel: Es scheint ein Traum zu sein, und doch ist es Realität …“ steht im Kletterführer Muzzerone. In der Tat, besser könnte man diese einzigartige Gegend nicht beschreiben …
Eine kleine Auswahl an Sektoren
Sektor Parete Centrale
Was das Sportklettern betrifft, ist dies sicher die bekannteste und meist besuchte Wand bei Muzzerone. Es gibt sehr viele lange Routen in allen Schwierigkeitsgraden mit guter Absicherung. Der Fels ist marmorähnlich und teilweise abgespeckt. Zustieg: Vom Forte Muzzerone ca. 500 Meter die Teerstraße hinab. Man verlässt die erste Kehre nach links und erreicht über einen Pfad die ersten Einstiege.
Sektor L’intaglio
Der kleine bereich bietet überwiegend kurze Anfängerrouten in kompakten Granit. Zustieg: Vom Forte Muzzerone ca. 500 m die Teerstraße hinab. Die Routen befinden sich gleich bei der ersten Kehre.
Sektor Parete delle Meraviglie
Der große Felsobelisk bietet einige Routen mit bis zu 6 Seillängen, überwiegend in den unteren bis mittleren Schwierigkeitsgraden. Ideal, um sich an’s Mehrseillängen-Klettern ranzutasten. Schöner kompakter Fels, relativ wenig abgespeckt. Zustieg: Vom Forte Muzzerone ca. 500 m die Teerstraße hinab. Man verlässt die erste Kehre nach links und steigt zur Parete Centrale ab. Vom tiefsten Punkt führt ein weiterer Pfad zu mehreren Fixseilen hinab, die linkshaltend zur Wand leiten. Von der Kehre ca. 15 Minuten.
Sektor Cajenna
Sehr schönes und versteckt gelegenes Gebiet. Viele kurze und lange mittelschwere Routen. Gut gesichert, marmorähnlich und teilweise abgespeckt. Zustieg: Unter dem Forte Muzzerone befinden sich direkt bei der Straße ein paar Holzbänke. Von hier führt ein Wanderweg Richtung Porto Venere hinab. Nach ca. 100 m ist ein weißer, unscheinbarer Pfeil am rechten Wegrand angemalt. Hier nach rechts durch den Wald und entlang des Fixseils zu den Einstiegen hinab. Von den Holzbänken ca. 10 Minuten.
Sektor Mandrachia Bassa
Sehr schönes Ambiente mit tollem Meeresblick. Viele mittelschwere Routen mit bis zu 2 Seillängen. Schöner rauer Fels und gut gesichert. Zustieg: Von den Holzbänken unter dem Forte Muzzerone Richtung Porto Venere hinab. Man folgt dem Weg ca. 15 Minuten bis zu einem alten Steinhaus ohne Dach (hier biegt der Weg nach links zum Rifugio Muzzerone ab). Wenige Meter weiter ist auf der rechten Seite bei einem Block „Mandrachia“ angeschrieben. Hier nach rechts über ein Band zu einer markanten Terasse. Von dort nach links über Fixseile absteigen. Anschließend nach rechts zu den teilweise exponierten Einstiegen. Von den Holzbänken ca. 25 Minuten.
„Chi vuol essere lieto …“ am Pilastro del Bunker
Sehr schöne 6-Seillängen-Tour am Pilastro del Bunker mit tollem Meeresblick. Die Route zählt zu den bekannten Klassiker in Muzzerone. Am Wochenende herrscht Staugefahr. Überwiegend 5c mit einer Länge 6a. Gut gesichert, teilweise abgespeckt. Es kreuzen sich mehrere Routen, man folgt am besten dem jeweiligen Hakentyp. Zustieg: Von den Holzbänken unter dem Forte Muzzerone Richtung Porto Venere hinab. Man folgt dem Weg ca. 10 Minuten bis zu einem Bunker mit Antennen. Ca. 10 Meter davor befindet sich in der Wegmitte auf einem Stein ein weißer Pfeil. Hier geht es nach rechts durch eine Senke entlang der Fixseile bis zum Ende hinab. Nun linkshaltend über den steilen Hang hinab, der bis zu einem schmalen Platz vor einer Felskante führt. Hier befindet sich der exponierte Einstieg. Von den Holzbänken ca. 20 Minuten. Rückweg: Die Tour endet auf einem kleinen Vorgipfel. Von hier kurz absteigen und danach wenige Meter hinauf zum Bunker mit den Antennen.
Sektor Pilastro Selvaggio
Der Sektor ist sehr versteckt, ruhig gelegen und wird nur wenig besucht. Sehr schöner Blick hinüber nach Porto Venere. Es gibt ca. 15 Routen mit bis zu 4 Seillängen im Schwierigkeitsgrad 5c bis 6c. Schöner rauer Kalk mit sehr schöner und gut gesicherter Kletterei. Im Kletterführer sind kaum Topos enthalten. Wir stiegen in die “Chod” (3 Seillängen bis 6b) und “Je suis Charly” (3 Seillängen bis 6a) ein. Beides sehr schöne und empfehlenswerte Routen. Zustieg: Von den Holzbänken unter dem Forte Muzzerone Richtung Porto Venere hinab. Man folgt dem Weg ca. 15 Minuten bis zu einem alten Steinhaus ohne Dach (hier biegt der Weg nach links zum Rifugio Muzzerone ab). Wenige Meter weiter ist auf der rechten Seite bei einem Block „Mandrachia“ angeschrieben. Hier nach rechts über ein Band zu einer markanten Terasse. Von dort nach links über Fixseile absteigen (auf der rechten Seite befindet sich der Sektor Mandrachia). Eine weitere Fixseil-Kette führt links absteigend unter die Wand. Von den Holzbänken ca. 30 Minuten. Rückweg: Die Routen enden bei einem alten Steinhaus. Von hier durch das Gestrüpp hinab zum Wanderweg und nach links zurück zum Ausgangspunkt.
Allgemeine Absicherung
Die besten und gängigsten Routen sind mittlerweile perfekt mit Klebehaken saniert. In manchen Linien befinden sich nach wie vor die alten, teils angerosteten Haken der Erstbegeher. In den Mehrseillängen-Routen sind gelegentlich Keile und Friends hilfreich.
Ausrüstung
Für die Sportkletterrouten: 70-Meter-Einfachseil, bis zu 14 Exen
Für die Mehrseillängenrouten: 60-Meter-Doppelseil, bis zu 12 Exen, evtl. Friends
Beste Jahreszeit
Von Oktober bis Juni. Im Sommer ist es definitiv zu warm zum Klettern. Da die meisten Routen nach Westen ausgerichtet sind, klettert man vormittags im Schatten.
Anreise
Von La Spezia über die rechte Uferstraße nach „Le Grazie“. Etwa in Ortsmitte führt bei einem Hinweisschild (Palestra di Roccia) nach rechts eine schmale Straße über Serpentinen zum Forte Muzzerone hinauf. Von Le Grazie ca. 8 Kilometer.
Übernachtung
Es befinden sich einige Biwak- und Stellplätze beim Forte Muzzerone. Alternativ kann im tiefer gelegenen „Rifugio Muzzerone“ übernachten werden. Siehe www.rifugiomuzzerone.it Vom Forte Muzzerone aus, erreicht man die gut geführte Hütte über Pfade in ca. 30 Minuten.
Topos
Kletterführer Muzzerone www.kletterfuehrer.net
Webinfo
www.alpenverein-muenchen-oberland.de
Bildgallerie