Die Ostseite der „Nadeln von Chamonix“ gehören zu den besten Granit-Klettergebieten der Alpen. Hier gibt es über 100 Mehrseillängen-Routen äußerst kompaktem rot-braunem Chamonix-Granit, die meisten davon sind von Michel Piola erstbegangen. Typisch für seinen Stil ist die Selbstabsicherung von Rissen und Verschneidungen, nur in den plattigen Passagen stecken Bohrhaken. Die Routen rund um das „Refuge de l’Envers des Aiguilles“ sind alle in wenigen Minuten von der Hütte erreichbar, und ab 7 Uhr morgens scheint bereits in vielen Wänden die Sonne. Das Tourenangebot erstreckt sich von der gemütlichen Nachmittagstour mit 4 Seillängen bis hin zur 800-Meter-Wand, und ab dem 5. Schwierigkeitsgrad ist hier alles geboten. Das Ambiente ist schon was Besonderes: An jeder Ecke auf der Hütte liegen kiloweise Friends und sonstiges Equipment rum, hier treffen sich die Freunde des Clean-Climbings aller Nationen. Unterhalb der Hütte bietet sich ein Mehrseillängen-Klettergarten als Halbtagesprogramm bzw. bei unsicherem Wetter an. Bereits beim Zustieg zur Hütte tut sich die ganze Palette namhafter Berge auf: Dru, Aiguille Verte, Grand Jorasses, Dent du Geant mit dem Rochefortgrat und immer wieder der schöne Blick auf das Mer de Glace, dem Gletscherstrom, der vom Mont Blanc herabzieht. Wer einmal in diesem Gebiet war, wird wieder kommen …
Absicherung
Sämtliche Touren wurden mit einem Minimum an Bohrhaken eingerichtet. An Rissen oder Stellen, wo selbst gelegt werden kann, stecken keine Bohrhaken. Es kann also gut sein, dass eine lange, anstrengende Risspassage vollständig selbst abgesichert werden muss. Deshalb ist die Mitnahme kompletter Sets an Keilen und Friends obligatorisch. Plattenpassagen oder Stellen, welche keine mobilen Sicherungsgeräte aufnehmen, sind mit Bohrhaken versehen. An den Standplätzen befinden sich meist zwei Bohrhaken.
Zustiege
Die Einstiege sind in wenigen Minuten bis zu einer halben Stunde erreichbar. Für den Zustieg empfehlen sich je nach tageszeitlicher Erwärmung Steigeisen und Pickel für die Überwindung der Gletscherzungen. Eventuelle Randspalten können sich als problematisch erweisen und müssen ggf. von der Seite her umgangen werden.
Abstiege
Abseilen über die Routen. Die Standplätzen sind wegen der vielen Begehungen gut mit Schlingen ausgerüstet.
Die Envers-Hütte (2523 m)
Aufgrund der Vielzahl der Kletterer ist die Hütte oft überfüllt, eine Anmeldung ist ratsam. Sie liegt wie ein Adlerhorst über dem Mer de Glace und bietet ein wunderbares Ambiente. Die Bewirtschaftung ist gut. In der Nähe gibt es einige Biwakplätze, an denen auch gezeltet werden kann.
Übersicht der Aiguilles von Charmonix von Osten
Zustieg zur Hütte
Von Chamonix mit der Zahnradbahn hinauf zur Bergstation Montenvers (1913 m). Abstieg über Leitern und Geröll zum Mer de Glace. Von hier ca. 1 Stunde nach rechts über den Gletscher ansteigen, bis er beginnt, sich aufzusteilen. Rechts wird ein großes gelbrotes Viereck im Fels sichtbar, das auf die vielen Eisenleitern hinweist, die über Gletscherschliffplatten hinauf zum Wanderweg führen. Von hier geht es über einen phantastischen Panoramaweg zur Hütte. Von der Bergstation Montenvers gemütlich in ca. 2,5 Stunden.
Unsere Kletterrouten
Wir planten einen dreitägigen Aufenthalt auf der Envers-Hütte. Eigentlich wollten wir u. a. die Grepon-Ostwand mit dem nordseitigen Abstieg nach Chamonix durchsteigen. Ein akuter Wintereinbruch im miserablen Kletter-Sommer 2014 vereitelte jedoch unser Vorhaben, so ergab sich folgendes Programm:
- Tag
Winterlicher Aufstieg zur Hütte, nachmittags Einstieg in die Route „Le pont des soupirs“ an der Tour Verte, dem Hausberg der Envers-Hütte. Der Einstieg befindet sich wenige Minuten davon entfernt. Schwierigkeit: 6b+ bzw. 6a obligatorisch, 8 Seillängen. Kernstück der Route ist eine eingelagerte Felsbrücke zwischen zwei Türmen, über die balanciert werden darf. Ein schönes Einstiegsprogramm, sich an die Selbstabsicherung zu gewöhnen. Leider war es ziemlich kalt, doch nach dem Abseilen waren wir pünktlich zum Abendessen schnell wieder auf der nahegelegenen warmen Hütte.
- Tag
Schönes Wetter, aber immer noch Schnee in den Wänden. Wir entschieden uns, unterhalb der Hütte zum Mer de Glace abzuseilen, weil in den tieferen Zonen der Schnee schneller abtaute. Ziel war die Route „Les Contes da la ordinaire“ am Pilier des Contes. Schwierigkeit: 6a+, 5c obligatorisch, 250 m Kletterlänge.Wenige Minuten Fußabstieg, Abseilen über die Wand, perfektes Ambiente über dem Gletscher. Es handelt sich dabei um eine sehr schöne, empfehlenswerte Riss- und Plattenkletterei, die sich gut absichern lässt. Bohrhakenstände auf bequemen Bändern. Im Anschluss erreichten wir den Hütten-Mehrseillängen-Klettergarten und landeten nach weiteren 4 Seillängen punktgenau auf der Hütten-Terasse. Insgesamt ein tolles tagesfüllendes Klettererlebnis.
- Tag
Die Wände waren nun wieder trocken. Von den vielen Empfehlungen entschieden wir uns für „Bienvenu au Georges V“ am 1. Turm der Nantillons (2921 m). Schwierigkeit: Sicherlich 6b bzw. 6a+ obligatorisch, da sind doch einige Passagen dabei, die es in sich haben und die Körnung in der Schlüsselstelle schon etwas abgetreten ist. Querung von der Hütte nach links über Geröll und Gletscher zur Wand. Stau an allen Einstiegen, der Turm scheint das begehrteste Zeil der Gegend zu sein. Nach einer Weile kamen auch wir an die Reihe, und das Warten hat sich gelohnt: Anspruchsvolle Riss- und Plattenkletterei vom Feinsten. Hier steckt nur das nötigste Material und es darf fleißig „gelegt“ werden. Die Routenfindung ist nicht immer ganz einfach, Runouts inclusive. Insgesamt eine spannende Tour, die mir in Erinnerung blieb. Anschließend problemloses Abseilen über die Route.
Weitere empfehlenswerte Routen
“Guy-Anne” am 1. Turm der Nantillons, 6a+
“Amazonia” am 1. Turm der Nantillons, 6 a
„Tout val Mal“ an der Aiguille de Roc, 6 b
“Le Marchand de sable” am Tour Rouge, 6a+
„Mer de Glace“ am Grepon, 4 – 5, 800 m, Abstieg nach Norden auf die Chamonixseite
Und viele andere …
Topo (PDF)
Klettergarten-bei-der-Envers-Hütte
Bienvenue du Georges V am 1. Turm der Nantillons
Les Contes de la Ordinaire am Pillier des Contes
Envers des aiguilles, Michel Piola, 2006 und weitere Auflagen