Schon in den 70er Jahren war ich im Gebiet der Muttekopf Hütte unterwegs. Das begehrte Ziel meiner Alpenvereins-Jugendgruppe war damals der Melzer-Grat auf die Hintere Platteinspitze. Mit den steigeisenfesten Lowa-Westalpen-Bergschuhen kraxelten wir über den brüchigen Grat im 4er Gelände auf den aussichtsreichen Gipfel hinauf. Lederstiefel, Brustgurt, rostige Normalhaken und brüchige Anstiege, damals alles zeitgemäß, das Bergerlebnis stand da meist im Vordergrund. Es gab noch wenige Kletterrouten in den Lechtaler Alpen, man war zufrieden von zu Hause wegzukommen und mit der Gruppe unterwegs zu sein. Höhepunkt war schließlich ein zünftiger Hüttenabend auf der Muttekopf Hütte, wo der legendäre Wirt Erwin Vonier mit seinem Unterhaltungs-Programm den Gastraum zum Kochen brachte.
In den 90er Jahren stiegen wir gelegentlich über ein rießiges Geröllkar zur Melzer Platte an der Hinteren Platteinspitze hinauf. Lange Zeit war hier die Schmetterlings-Verschneidung der begehrte Klassiker. Mit „Fandango“ entstand an der markanten Platte eine der ersten Bohrhakenlinien in den Lechtaler Alpen. Mittlerweile waren moderne Kletterschuhe angesagt, und das Kletter-Niveau nach oben hin nicht mehr aufzuhalten. Das Zeitalter des Alpinen Sportkletterns hatte begonnen. So entstanden im Laufe der Zeit weitere moderne Linien an den „Blauen Köpfen, den Gugger Köpfen, am Engelskarturm usw.“ wo der Fels vergleichsweise richtig fest war.
Seit der Jahrtausendwende beschleunigte schließlich die Imster Kletterszene die Erschließung gut gesicherter Kletterrouten und gründete die Tiroler Kletterinstitution „Climbers Paradise“. So bieten die Felswände rund um die Muttekopf Hütte mittlerweile eine Vielzahl lohnender Klettermöglichkeiten inclusive Klettergärten. Die rechtzeitige Reservierung für einen Aufenthalt auf der Hütte ist zumindest am Wochenende dringend anzuraten. Der sonst lange Zustieg lässt sich mit Benützung des “Alpin-Coasters” auf schlappe 30 Minuten reduzieren. Neben dem üblichen Kletter- und Wandergeschen werden hier anscheinend auch Workshops jeglicher Art angeboten …
Sommer 2018. Das Wetter war so gut wie schon lange nicht mehr und die Zeit war reif, wieder einmal eine „Longline“ anzugehen. Adi Stocker veröffentlichte in seinem Buch der längsten Kletterrouten in den Ostalpen die Route „Plattenzauber“ an der Hintereren Platteinspitze. Wir übernachteten auf dem Hahntennjoch und wanderten früh morgens über das Scharnitzjoch hinab Richtung Muttekopf Hütte.
Die Erinnerung wurde wieder wach: dort drüben ist der Melzergrat, die Tour muss sich links davon in der Schlucht befinden. Der Weg führte zunächst wieder hinauf Richtung Engelskar und anschließend nach rechts hinab zur rießigen Kieshalde unter der Südwand. Über uns die markante Schlucht, wir waren richtig. Schwach ausgetretene Serpentinen und zuletzt blockiges Gelände führten schließlich hinauf zum Einstieg. Wer von der Muttekopf Hütte kommt tut sich da um einiges leichter, da der Zustieg und die Wand besser eingesehen werden können.
Kaum zu glauben, dass hier eine Kletterroute startet, Erinnerungen an vergangene Alpine Zeiten wurden wach. Man befindet sich in einem langen düsteren V-förmigen Schluchtgraben, der sich bei Starkregen schnell zum Sturzbach entwickelt. Der Einstieg wird von kreativen Zeichnungen und verlockenden Bohrhaken geziert, so kommt in dieser schattigen Umgebung erleichternd die nötige Stimmung auf.
Der „Plattenzauber“ zieht von Anfang an konstant diagonal ansteigend durch die linke Schluchtwand. Die Erstbegeher haben hier eine Linie zusammengebastelt, die unzählige Querungen bzw. steile Wandstufen miteinander verbindet. Richtungsweisende Bohrhaken erleichtern die Orientierung in der schier endlos langen Plattenflucht. Obwohl man in der unteren Hälfte nur zaghaft an Höhe gewinnt, macht die Kletterei im genussvollen 5er Gelände richtig Spaß.
Die Tour wird dazu nach oben hin immer schöner und bietet nach der 12. Seillänge beeindruckende Plattenkletterei an fantastisch kompakten Fels. Der Erstbegeher Alfred Flür kombinierte in der Headwall die besten Wandbereiche zur Traumkletterei, wie man sie nur selten findet. Allen voran die 16. Seillänge: 45 Meter wie mit dem Lineal gezogen, Schwierigkeitsgrad 6+ und mit 17 Bohrhaken bestens gesichert. Und schließlich das Finale: ein exponierter Quergang führt unter einem Dach nach links, und in einer weiteren Seillänge hinauf zum Westgratturm. Einfach nur genial, eine der kreativsten Kletterrouten in den Lechtaler Alpen!
Am Westgratturm wird man dann allerdings schlagartig in die Alpine Realität zurückversetzt. Abseilen kam nicht in Frage, also weiter zum Gipfel. Wir umgingen den Turm auf seiner linken Seite und stiegen nach längerem Rätselraten in eine tiefergelegene Scharte ab, die zum Gipfelgrat führt. Alles schön brüchig und nur schwer zu auszumachen. Nach weitereren 30 Minuten Kraxelei über den selbsterklärenden Südwestgrat standen wir schließlich auf dem einsamen und aussichtsreichen Gipfel der Hinteren Platteinspitze …
Fazit
Der „Plattenzauber“ gehört zur absoluten Pflichttour in den Lechtaler Alpen. Der Anstieg bietet über eine Strecke von ca. 18 Seillängen phantastische Wand- und Plattenkletterei in kompaktem Fels und beeindruckendem Ambiente. Der Weiterweg auf den Gipfel ist alpin und rundet das Gesamterlebnis ab. Zusammen mit dem langen und ebenso alpinen Abstieg bietet die Klettertour ein lohnendes und zugleich tagesfüllendes Programm.
Schwierigkeit
18 Seillängen gut gesicherte Felskletterei. Weitere 2 bis 3 Seillängen alpine Gratkletterei. In der unteren Hälfte meist +/-5. Im oberen Teil meist +/-6. Maximal 6+ (5+ obligatorisch). Der Übergang zum Gipfelgrat verlangt ein gute Orientierung und sicheres Klettern im alpinen und brüchigen Gelände.
Absicherung
Die ganze Tour ist perfekt mit Bohrhaken ausgestattet. Es sind keine mobilen Klemmgeräte erforderlich. Für den Übergang vom Westgratturm zum Südwestgrat sind Schlingen nützlich.
Material
50-Meter-Doppelseil. In der 16. Seillänge können bis zu 17 Exen eingehängt werden. Es kann im Vorstieg aufgrund der Hakendichte aber auch wieder „eingesammelt“ werden.
Zeitbedarf
Zustieg: Gut 1 Stunde von der Muttekopf Hütte bzw. 2,5 Stunden vom Hahntennjoch
Klettertour: ca. 5 bis 6 Stunden
Abstieg: ca. 2,5 Stunden zur Muttekopf Hütte bzw. 3,5 Stunden zum Hahntenjoch
Talort
Imst (Inntal) oder Hahntennjoch (Lechtal)
Stützpunkt
Zustieg zur Kletterroute
- Vom Hahntennjoch: Von der Passhöhe über’s Scharnitzjoch Richtung Muttekopf Hütte absteigen. Sobald sich das Kar abflacht, nach links über den Bach und rechts hinauf Richtung Engelskar. Sobald der Weg steiler wird, bei den ersten Latschen nach rechts über Schrofen absteigen und zum großen Geröllkar hinübersteigen. Von hier über schwache Pfadspuren zur markanten Schlucht aufsteigen. Der Einstieg befindet sich oberhalb von Blöcken am Beginn der eigentliche Schlucht. (Markierung). Vom Hahntennjoch ca. 2,5 Stunden.
- Von der Muttekopfhütte: Dem Weg Richtung Scharnitzkar folgen. Anschließend nach rechts über den Bach Richtung Engelskar. Sobald der Weg steiler wird, bei den ersten Latschen nach rechts über Schrofen absteigen und zum großen Geröllkar hinübersteigen. Von hier über schwache Pfadspuren zur markanten Schlucht aufsteigen. Der Einstieg befindet sich oberhalb von Blöcken am Beginn der eigentliche Schlucht. (Markierung). Von der Muttekopf Hütte ca. 1 Stunde.
Abstieg
Durch rote Punkte markiert, teilweise seilversichert. Ca. 2,5 Stunden zur Muttekopf Hütte bzw. 3,5 Stunden zum Hahntennjoch
Topo
Kletterführer „Longlines“. Die längsten Kletterrouten der Ostalpen. www.panico.de
Webinfo