Eines der ersten Klettergebiete im Maggiatal war die „Scaladri“ (dialektisch „Treppe“), eine ca. 300 m hohen Granitwand über der kleinen Ortschaft Avegno gelegen. Aus der Ferne betrachtet wirkt sie eher botanisch und feucht, doch wer durch diese mächtige Wand klettert, wird eines besseren belehrt. Nicht enden wollende Plattenfluchten, immer wieder durch Steilstufen und schmale Bänder unterbrochen, sind Programm. Grau-braune Felsverkrustungen erlauben eine erstaunlich gute Reibung, dazu gibt es zahlreiche Dellen und Kanten, gelegentlich auch auch Dächer, Risse oder Verschneidungen. Die Platten sind oft sehr steil, sodass der 6. Grad nur an wenigen Stellen unterboten wird. Nach 14 Seillängen ist man schließlich froh, aus den engen Kletterpatschen wieder rauszukommen …
1980 entstand hier die „Fantasia“, wenige Jahre später folgten ca. 14 weitere Routen mit ähnlichem Charakter. Bis zur Jahrtausendwende wurden sie oft wiederholt, danach geriet die Wand zunehmend in Vergessenheit. Die Absicherung war anfangs minimalistisch, später mit Bohrhaken in weiten Abständen versehen. Wer damals in die Routen einstieg, konnte sich auf ein mutiges, abenteuerliches Klettern einstellen, weite Stürze mit ungewissem Ausgang sollten besser vermieden werden. Der Einstieg der „Taroc“ wurde irgendwann mit einem Gedenkkreuz geziert. Als ich mich Mitte der 90er-Jahre als Granit-Neuling in der Schlüsselstelle der Fantasia (6b+) etwas länger aufhielt, riet mir ein Schweizer Plattenspezialist, ich soll doch erstmal an die Ponte Brolla zum Üben gehen …
Es dauerte ein paar Lektionen, bis ich mich an diese Art des Kletterns gewöhnte. Bald knackte ich die Crux der Fantasia und die Taroc wurde sogar zu meiner Lieblingstour. Der kurze Zustieg, eine ordentliche Kletterlänge samt Anspruch und Schönheit lockte uns fortan immer wieder in die „Scaladri“. Nach 14 Seillängen kamen wir auf dem Ausstiegsband an und es schlich sich wie immer eine wohltuend innere Zufriedenheit ein …
Seit 2021 ist dieses Abenteuer jedoch passé. Die Locals „Lorenzo und Renzo“ verpassten den gängigen Routen (La Stadera, Taroc, Yoghi und Fantasia) eine typische Plaisir-Absicherung. Sie entfernten das alte Material samt störender Botanik, optimierten die Linien, und hinterließen in der Wand 200 neue Bohrhaken. Zudem wurden die Wege mit Farbpfeilen markiert, um die Orienterung an Routen-Kreuzungen zu erleichtern.
Bei unserem letzten Maggia-Trip stiegen wir wegen Stau in den benachbarten Routen nach längerer Zeit wiedermal in die „Taroc“ ein. Der einstige Charakter hatte sich nun grundlegend verändert: sämtliche schweren Passagen können A-Null geklettert werden und die Hakenabstände sind so eng, dass potentielle Stürze praktisch ungefährlich sind. Vielleicht hätten Lorenzo und Renzo noch einen Hauch von Abenteuer übrig lassen sollen? Wie dem auch sei: geblieben sind die Schwierigkeiten – wer sich über die Absicherung beschwert, sollte sich besser auf’s Freiklettern konzentrieren – und das ist gar nicht so einfach an der Scaladri. Immerhin gibt es für die Abenteuersüchtigen noch die etwas ernsteren Routen am Monte Garzo …
Jedenfalls hat die Scaladri mit der jüngsten Sanierung wieder einen deutlichen Aufschwung erhalten, mit erhöhtem Besucher-Andrang ist künftig zu rechnen. Wer den 6. bis 7. Grad anstrebt, findet hier nun 4 erstklassige Granitrouten mit bester Absicherung und einer Länge von bis zu 14 Seillängen vor. Und wenn es die Füße noch mitmachen, können in der Headwall über dem Ausstiegsband noch 2 weitere Längen angehängt werden. Für mich steht fest: ein Kletterurlaub im Maggiatal lohnt sich nun wieder um so mehr. Nach längeren Regenfällen trocknet die „Taroc“ am schnellesten wieder ab und ab Mittag gibt‘s Sonne in der Wand. Die beste Zeit ist nach wie vor das Frühjahr und der Herbst für’s Klettern im Maggiatal …
Die sanierten Routen an der Scaladri
1. La Stadera 6c (6a+ obligat.) gelb markiert
2. Taroc 6b+ (6a obligat.) grün markiert
3. Routenkombination Yoghi/Acquario/Acquaplaning 6b+ (6a A0 obligat.) blau markiert
4. Fantasia 6b (5c obligat.) rot markiert
Detaillierte Beschreibung
Absicherung
Sämtliche Routen sind sehr eng mit Bohrhaken eingerichtet. Es werden keine Friends benötigt. Die schweren Stellen können A-Null geklettert werden.
Ausrüstung
14 Exen. Generell kann mit einem 50-Meter-Einfachseil geklettert werden. Bei Zeitmangel bzw. Überforderung ist ein Doppelseil anzuraten, damit im Notfall über die Routen abgeseilt werden kann.
Ausgangspunkt
Avegno im Maggiatal. Der Parkplatz befindet sich am westlichen Ortsende beim Restaurant “Grotto Mai Morire”.
Zustieg
Vom Parkplatz ca. 50 Meter über eine Wiese weiter taleinwärts. Danach über einen ausgetretenen Pfad durch den Wald hinauf zum Wandfuß. Ca. 5 Minuten.
Einstiege
Der Pfad führt direkt hinauf zu den Sammel-Einstiegen für „La Stadera, Taroc und Yoghi. Nach 2 Seillängen verteilen sich die Routen auf einem Band. Für die „Fantasia“ gibt es ca. 10 m rechts davon eine neue Einstiegsvariante.
Abstieg
An den Ausstiegen erreicht man ein botanisches Band. Der Abstieg erfolgt nach rechts zum Wanderweg, der zurück nach Avegno führt. Ca. 30 Minuten.
Übernachtung
Wildes Campieren ist im Maggiatal streng verboten. Ich empfehle den Campingplatz „Piccolo Paradiso“, direkt an der Maggia gelegen www.camping-piccoloparadiso.com
Topos
Kletterführer Schweiz Plaisir Süd www.kletterfuehrer.net
Kletterführer Tessin vom SAC www.sac-cas.ch
Webinfo
www.hikr.org
www.hikr.org
www.my-klettern.de
www.sac-cas.ch
Bildgallerie