Das Val di Mello auf der Südseite des Bergells ist vor allem landschaftlich betrachtet schon ein Besuch wert. Mit seinen steil aufragenden Granitwänden, den wilden Gebirgsbächen, Tümpeln, Cascaden und Almwiesen befindet man sich hier in einem einmaligen Ambiente. In der Hauptsaison bzw. an den Wochenenden wird das Tal von zahllosen Touristen belagert, der oberste Parkplatz ist auf 80 Autos beschränkt. Wer auf den Campingplatz möchte, bekommt allerdings vielleicht noch eine Chance durchgelassen zu werden. Oder man geht vom Talort San Martino in einer halben Stunde zu Fuß, mit dem Bike bzw. benützt den Shuttle-Bus. Deshalb ist es vielleicht besser dem Tal in der Vor- bzw. Nachsaison einen Besuch abzustatten …
Das Val di Mello ist das Mekka der Trad-Climber. Was die Absicherung betrifft, stellt’s dem verwöhnten Plaisir-Kletterer die Nackenhaare auf. Mit ein paar Ausnahmen wurde hier in den traditionellen Routen nichts gebohrt, dafür ist viel Selbstinitiative gefragt. Die Risse und Verschneidungen nehmen bereitwillig Keile und Friends in allen Größen auf, auf den Plattenpassagen sind teilweise längere Runouts angesagt. Gelegentlich lässt sich eine Schlinge um einen Baum legen oder man trifft auf Fixkeile bzw. wenige Zwischenhaken unterschiedlicher Qualität. An den Ständen muß man sich meist mit geschlagenen Normalhaken begnügen, die mit Schlingen bzw. mobil optimiert werden können.
Ca. ein Kilometer unterhalb von San Martino befindet sich der Sasso Remenno, ein riesiger Felsobelisk, direkt an der Straße gelegen. Hier bewegt man sich außerhalb der bohrhakenfreien Zone, es gibt mehrere Sportkletterrouten von 3a bis 7a und Übungsmöglichkeiten für die Bigwall-Techno-Kletterer, um die Portaledge in die Wand zu hängen. Und sogar die Mehrseillängen-Plaisir-Kletterer dürfen sich freuen: Am benachbarten Massiv Pesgunfi gibt es mehrere gut eingerichtete Bohrhakenlinien mit bis zu 16 Seillängen.
Das Ambiente auf dem Campingplatz muß man erlebt haben. Da pilgern die Boulderer am späten Vormittag zu ihren Blöcken oder die Bigwall-Kletterer packen ihren Howl-Bag für einen mehrtägigen Aufenthalt in den höheren Etagen. Wir hingegegen entschieden uns für eine Auswahl der großen Klassiker des Tals, der Nirvana, Kundalini und Luna Nascente, der vielleicht besten Riss- und Verschneidungs-Kletterei der Alpen? Und zum Abschluss zur Beruhigung der Nerven die 16-Seillängen-Tour Scoubidou, einer plaisirmäßig abgesicherten Plattenkletterei vom Feinsten …
L’Alba del Nirvana am Tempio dell‘Eden
Die Route bietet sich als Eingehtour an, um einen Einblick in die Absicherung der Mello-Routen zu erhalten. Gleich zu Beginn eine schlecht gesicherte Platte, die zu einem Baum führt. Über eine kurze Verschneidung weiter zum nächsten Baum. Nun diagonal nach links über Stufen unter die Dachverschneidung (Schlüsselstelle 6a, schlecht gesichert). Die restlichen Seillängen führen nach rechts entlang der Verschneidung bis zu einem Baum am oberen Ende. Von hier eine kurze Querung nach rechts zum Abseilstand an einer Kette. Schwierigkeit: 6a (6a obligatorisch). Material: Doppelseil, Schlingen, Keile und Friends, Abseilausrüstung. Zustieg: Vom Parkplatz taleinwärts bis kurz vor die Brücke, die nach rechts zu einer Alm auf der anderen Bachseite führt. Auf einem Pfad gelangt man nach links zum Einstieg. Vom Parkplatz ca. 30 Minuten. Abstieg: Von der Abseilkette einmal abseilen und durch den Wald nach rechts absteigen. Von einem Baum gelangt man in einer weiteren Abseilfahrt über die Einstiegsplatte zurück zum Einstieg.
Il Risveglio di Kundalini am Dimore Degli Dei
Sehr abwechslungsreiche und klassisch anspruchsvolle Route, die teilweise schlecht abzusichern ist. Man hüte sich davor, zu sagen: 6a habe ich im Klettergarten locker drauf … Der Einstieg befindet sich bei einer Verschneidung, die unter einem Dach nach rechts führt. In der zweiten Seillänge linkshaltend Querung unter einem Dach und wieder links bis zum Beginn einer langen Riss-Spur. Es folgt ein exponierter Kamin, der sich kaum absichern lässt und vielleicht die anspruchsvollste Steillänge (6a) der Tour ist. Nun konsequent der Dach-Verschneidung entlang nach rechts bis zu einer kurzen Abseilstelle mit Schlingen. Ein langer horizontaler Riss führt nach rechts und später über Platten zu einem Baum. Nun wieder rechtshaltend, über eine exponierte Kante und schlecht abzusichernde Platten zum Ausstieg. Schwierigkeit: 6a+ (6a obligatorisch). Material: Doppelseil, Schlingen, Keile Friends. Zustieg: Vom Parkplatz taleinwärts an der Brücke vorbei, die nach rechts zu einer Alm auf der gegenüberliegenden Bachseite führt. Das Tal wird breiter, man geht an großen Felsblöcken vorbei, und nach einer Bach-Brücke leitet ein Pfad nach links hinauf zur Wand. Vom Parkplatz ca. 1 Stunde. Abstieg: Vom Ausstieg nach links über den Pfad.
Luna Nascente am Scoglio delle Metamorfosi
Meist durchgehende Riss- und Verschneidungskletterei vom Feinsten. Der absolute Mega-Klassiker des Tals. Schwierigkeit: 6b bzw. 5c+ obligatorisch. Die ersten beiden Seillängen sind abweisend, teilweise abgespeckt und deshalb leichter in A-Null-Technik zu bewältigen. Danach folgen sehr schöne Piaz-Längen. Im oberen Teil der Route befindet sich eine exponierte Linksschlaufe mit anschließendem Riss-Kamin, der sich nur mit sehr großen Friends absichern lässt. Danach folgt der legendäre Links-Quergang über eine Quarzader ohne Zwischensicherung. Nach ca. 45 Metern muss bei einem Riss der hakenlose Stand mit Keilen und Friends selbst eingerichtet werden. Über den Riss gerade hoch und an dessen Ende nach links über Platten zum Ausstieg. Material: Doppelseil, Schlingen und je nach Sicherheitsbedürfnis ausreichend Keile und Friends in allen Größen. Zustieg: Vom Parkplatz taleinwärts und an der Brücke vorbei, die nach rechts zu einer Alm auf der anderen Bachseite führt. Etwas weiter zweigt nach links ein Pfad ab, der hinauf zur Wand führt. Im oberen Bereich wird nach rechts ein Bachlauf überquert. Vom Parkplatz ca. 1,5 Stunden. Abstieg: Vom Ausstieg geradeaus empor und über einen Pfad nach rechts und teilweise exponiert zurück zum Einstieg (Depot).
Scoubidou am Pesgunfi
Sehr schöne Plattenroute mit 16 Seillängen. Teilweise botanisch, aber auf die Länge gerechnet nicht störend. Schwierigkeit: 6a bzw. 5c obligatorisch. Mit Bohrhaken gut gesichert, trotzdem gelegentliche Runouts. Die Seillängen sind meist sehr lang (50 m), so ergibt sich eine Kletterlänge von ca. 600 – 700 Meter. Material: Doppelseil, 12 Exen, Abseilaustrüstung. Zustieg: Vom Parkplatz am Sasso Remenno (markanter Fels-Obelisk am Straßenrand) ca. 150 m Richtung San Martino. Anschließend nach links über einen Pfad und anschließender Querung eines Bachbettes gelangt man in ca. 45 Minuten zum Einstieg. Abseilen über die Route.
Talort
San Martino im Val de Mello. Erreichbar aus dem Valtellina (östlich des Comer Sees)
Übernachtung
Am schönsten gelegen ist der kleine Campingplatz am Ende der Fahrsstraße. Unterhalb von San Martino gibt es den etwas komfortableren Campingplatz Sasso Remenno. Vom obersten Parkplatz ist das idyllisch gelegene Rifugio Mello oder Luna Nascente in ca. 15 Minuten zu erreichen. Alternativ Pensionen in San Martino.
Topos
Schweiz Plaisir Süd, Filidor-Verlag
Kletterführer Val di Mello, Verlag Versante Sud