Kristian Rath

Ein Kenner der Allgäuer Berge erzählt …

Kristian, du stammst aus Bad Hindelang, mitten in den Oberallgäuer Bergen. Man hat den Eindruck, du kennst hier jeden Winkel. Ich nehme an, dein Wissen hat sich im Laufe der Zeit angesammelt. Kannst du deine Motivation näher beschreiben?

Gleich die schwierigste Frage am Anfang. 🙂 Es hat mich schon immer gereizt, Neues zu entdecken und die Gegend und die Natur zu erkunden.

Irgendwo habe ich gelesen, du hast alle Gipfel der Allgäuer Alpen bestiegen. Wieviel sind das eigentlich?

Das weiß ich selbst nicht genau. Es kommt nämlich darauf an, welchen Zacken man noch als Gipfel betrachtet und welchen nicht. Selbst die Wikipedialiste ist dort unvollständig. (Siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Gipfel_der_Allg%C3%A4uer_Alpen) Ich würde sagen fast alle. Wobei es durchaus sein kann, dass da oder dort noch irgendein voralpiner Waldhügel oder ein Felszacken fehlt.

Vor ein paar Jahren hast du das Buch „Alpine Bergtouren in den Allgäuer & Lechtaler Alpen“ mit insgesamt 50 Gipfeln veröffentlicht. Dazu warst du sicher eine Weile unterwegs, oder?

Das hielt sich in Grenzen. In erster Linie war es Schreibtisch-Bergsteigen. Die Hauptaufgabe bestand darin, vorhandenes Material zusammen zu tragen. Für den Skitourenführer Allgäu war ich länger unterwegs. Einige Berge rund um Balderschwang habe ich erst im Zuge der Recherche zum Skitourenführer bestiegen.

In anderen Alpen-Regionen kennst du dich ja auch gut aus. Was waren dort deine schönsten Erlebnisse?

Eine Skidurchquerung der Dauphine, die Überschreitung des Bietschorns, der Gr. Combin bei Pulverschnee und zu Hause immer wieder die Überschreitungen von Höfats und Fuchskarspitze.

Und weltweit?

Die Besteigung von Alpamayo und Huascaran in Peru und eine Skidurchquerung in Lyngen, lange bevor diese Region vom Skitourenboom erfasst wurde.

Soviel ich weiß, bist du ja eher der klassische Bergsteiger abseits der vielbegangenen Trampelpfade. Da gibt es bestimmt viel zu entdecken …

Ja, auf jeden Fall. Hin und wieder fühlt man sich in die Zeit der Erstbegeher zurückversetzt, wenn es weder Pfadspuren noch Markierungen gibt.

Wie wichtig ist dir eigentlich das reine Felsklettern? Im Hindelanger Klettergarten Weihar hast du ja auch schon diverse Sportkletter-Routen eingerichtet.

Das reine Felsklettern hat bei mir nie die Hauptrolle gespielt. Da schätze ich mittelschwere, gut abgesicherte Touren. Mit dem Alpinklettern habe ich angefangen, als sich mir irgendwann Richtung Gipfel Fels in den Weg gestellt hat, der ohne Kletterausrüstung nicht zu überwinden war. Später kam das Sportklettern dazu. Meist nur als Alternative, wenn das Wetter und die verfügbare Zeit keine alpinen Touren zugelassen haben. Inzwischen schätze ich es als Ausgleich, weil es meinem Rücken gut tut.

Wir reden die ganze Zeit über’s Sommer-Bergsteigen. Aber deine große Stärke liegt ja, wie allgemein bekannt, im „Schnee“. Du wirst oft als „Skitouren-Papst“ des Allgäus bezeichnet. Nicht umsonst hast du den Skitourenführer für die Allgäuer Alpen verfasst. Das war bestimmt auch eine Heidenarbeit?

In der Tat. Ich habe den Aufwand zunächst unterschätzt, da ich eben doch nicht alle Touren und Routen kannte. Gerade in den Vorbergen, im Raum Balderschwang und Oberstaufen gab es im Zuge der Recherche einige Bildungslücken zu schließen. Dafür bin ich auch auf Berge gekommen, die ich sonst wohl nie besucht hätte.

Dann wären da noch die Themen „Lawinen, Schneebeschaffenheit usw.“ Da macht dir ja – zumindest im Allgäu – auch niemand was vor. Wenn ich mich richtig erinnere, arbeitest du für den Bayerischen Lawinenwarndienst. Musst du im Winter tatsächlich jeden Tag die Schneesituation beurteilen?

Die Arbeit für den Lawinenwarndienst ist kein Vollzeitjob. Das mache ich meist vor der Arbeit oder in der Mittagspause. Wie das zu beurteilen ist, ergibt sich aus der Situation. Oft helfen uns da die Mess-Stationen und Webcams, so dass wir nicht jeden Tag raus müssen. Je nach Wetter und Schneesituation sind mal mehrere detaillierte Beobachtungen nötig, oder es reicht auch eine Diagnose vom Tal aus mit dem Fernglas sowie die Auswertung der Mess-Stationen. Mehrmals in der Woche ist und bleibt eine Beurteilung vor Ort unerlässlich. Wir tauschen uns täglich per Mail, Chat oder Telefon aus.

Bist du dann täglich auf Skitour unterwegs, oder wie muss ich mir das vorstellen?

Fast täglich. Unter der Woche oft nur kurz früh am Morgen oder in der Mittagspause im Pisten-Nahbereich. Wir sind ein ganzes Team von Beobachtern, die alle ihre Eindrücke der Lawinenwarnzentrale in München melden. Von dem her ist es nicht tragisch, wenn mal jemand nicht wirklich jeden Tag draußen ist.

Ein weiteres Spielfeld deiner unermüdlichen Schaffenskraft ist deine Internetseite „Freie Berge“. Wie ist es zu diesem Titel gekommen?

Weil das „Unterwegs sein in den Bergen“ für mich Freiheit bedeutet.

Auf deiner Seite wird erwähnt, dass du aus der Alpinen Praxis anders berichten möchtest, als es die alpine Main-Stream-Presse tut. Inwiefern hat die eine andere Wahrnehmung?

Blicken wir mal ins „Panorma“ oder auch in andere alpine Printmedien. Da wird ein Gebiet vorgestellt mit Einkehrmöglichkeiten und ÖPNV-Anreise. Doch leider entspricht das nicht der alpinen Praxis. Wenn ich z. B. auf den Langkofel in den Dolomiten oder mit den Skiern auf den Ortler möchte, dann ist in der Regel ein nächtlicher Aufbruch erforderlich. In den empfohlenen Unterkünften gibt es jedoch meist erst ab 8 Uhr Frühstück oder es werden spontan für eine Nacht keine Gäste angenommen. Es bleibt also nur das „Wilde Campieren“ am Parkplatz oder die Anreise mit dem Auto genau dann, wenn die Verhältnisse passen. Nicht aus Geiz, sondern aus der „alpinen Notwendigkeit“ heraus. Diese Problematik wird in der Alpinen Presse in der Regel meist ignoriert – ebenso, dass mich kein Bus morgens um 4 Uhr zum Ausgangspunkt der Frühjahrs-Skitour bringt. (Siehe https://freieberge.wordpress.com/2017/09/02/uebernachtungsprobleme-wir-brauchen-huetten-im-tal/)

Als im zweiten Lockdown, den es laut Versprechen des damaligen Gesundheitsministers gar nicht hätte geben dürfen, Tourengehern bei der Rückkehr aus der Schweiz oder Österreich  Quarantäne drohte, habe ich Tipps gegeben, mit welcher Ausrede man davon nicht betroffen ist, bzw. wo und wie man ungesehen über die Grenze kommt. Das hätte die alpine Mainstream-Presse niemals gemacht. Obwohl jedem, der ein bisschen rechnen kann, hätte klar sein müssen, wie unwahrscheinlich eine Virenverbreitung auf einer Skitour mit Übernachtung im Biwak oder in einer Ferienwohnung ist.

Du beschäftigst dich auch oft mit Themen wie „Freies Betretungsrecht kontra Verbote in der Natur“. Kannst dafür Beispiele nennen?

Das Freie Betretungsrecht ist in Bayern durch die Verfassung garantiert. Örtlich und zeitlich begrenzte Einschränkungen sind u. a. zum Schutz der Natur möglich. Gut so. Problematisch wird es, wenn der Naturschutz z. B. von Seiten der Jagd missbraucht wird, um großflächige Betretungsverbote durchzusetzen. Also eine Nutzergruppe verdrängt die andere. Als Beispiel nenne ich die Südseite des Hohen Ifens, der allerdings in Vorarlberg liegt.

Die Besucherlenkung durch neu eingeführte Parkplatzgebühren ist seit dem vorletzten Corana-Winter ja auch ein heißes Thema. Man könnte schon fast sagen: an jedem Hauseck steht mittlerweile eine Parkuhr …

Ja leider. Nachdem die von Seiten der Jagd und von radikalen Naturschützern gewollte großflächige Sperrung rechtlich meist nicht möglich sind, versucht man es auf diese Art. Man verhängt Nacht-Parkverbote, angeblich wegen Schneeräumen oder gegen Wildcamper, erschwert aber dadurch dem berufstätigen Einheimischen seine Feierabend- oder Sonnenaufgangs-Tour. Der Massenandrang nach dem ersten Lockdown war ein willkommener Anlass, das so durchzusetzen. Hinzu kommen die oft weit über die aktuelle Inflationsrate hinaus erhöhte Parkgebühren. Ich empfehle an solchen Orten Konsumverzicht beim Einkaufen oder in der Gastronomie. Wenn der Druck der Wirte und Händler steigt, kommen die politischen Entscheidungsträger hier vielleicht zur Besinnung.

In der Kommentar-Spalte auf deiner Internetseite „Freie Berge“ wird oft heftig miteinander diskutiert. Da prallen die unterschiedlichsten Meinungen aufeinander. Ich erinnere an das Thema Corona, da hast du manchmal ganz schön provoziert …

Mit dem Coronavirus ist es wie mit der Lawinengefahr. Es handelt sich um diffuse, nicht klar erkennbare Gefährdungen, denen man am besten mit gesunden Menschverstand und einem, an die persönlichen Verhältnisse angepassten Risiko-Management begegnet. Die Aufgabe des Staates ist es, in erster Linie zu warnen und aufzuklären. Was bei Lawinen mit dem Lagebericht und den Verhaltens-Empfehlungen ganz gut funktioniert hat, nämlich Eigenverantwortung, durfte in der Corona-Zeit nicht möglich sein. Da gab es nächtliche Ausgangssperren, 15-Kilometer- und Kontaktbeschränkungen sowie Grenzschließungen jenseits jeder Logik.

Ich gehe auch nicht bei Gefahrenstufe 4 auf den Linkerskopf, obwohl ich es darf und durfte. Übertragen auf Lawinen, waren die Corona-Maßnahmen aber so, als würde man das Wertacher Hörnle sperren, weil es am Linkerskopf lawinengefährlich ist. Weil es aber einem vorsichtigem Risiko-Management nicht widerspricht, alleine oder zu zweit eine Skitour im Tannheimer Tal oder eine Vollmond-Skitour zu gehen, das aber trotzdem verboten war, und weil sich der Staat in die höchstpersönliche Lebensführung eingemischt hat, habe ich zum tricksen und zivilen Ungehorsam aufgerufen und entsprechende Tipps gegeben. In den Kommentar-Spalten sind vor allem „Wolfgang“, ein Tourenleiter der Sektion Leutkirch und „Thomas“, ein Bergsteiger aus Kaiserslautern durch ständiges Pöbeln und Schimpfen aufgefallen. Sonst waren die Diskussionen aber durchaus fair.

Immerhin regen deine Themen zum Nachdenken an. Würdest du dich auch als Querdenker bezeichnen, oder was hältst du von dieser Gruppierung?

Mit dem was man heute darunter versteht, nämlich der Glaube an eine Verschwörung, eine geheime Weltregierung, Q-Anon, die Verstrickung von Bill Gates usw. kann ich überhaupt nichts anfangen. Dazu bin ich zu wissenschafts-gläubig. Das Positive an den Querdenkern war, dass sie während des Lockdowns die Polizei beschäftigt haben, so dass diese weniger Zeit hatte für Grenzkontrollen, Abstands-Masken, G3-Kontrollen oder um zeitweise illegale Winterraum-Übernachtungen aufzudecken.

Noch etwas zum Thema Jagd. Erst neulich wurde in Balderschwang wieder ein Wolf gesichtet, und prompt kochten die Gemüter wieder auf. Wie siehst du eigentlich diese Problematik? Oder ist der Wolf überhaupt ein Problem für dich?

Als Bergsteiger sehe ich das Thema ganz pragmatisch. Das Thema Wolf bringt Bauern und Jäger auf der einen Seite, die radikalen Naturschützer auf der anderen Seite gegen einander auf. Beim Thema Besucherlenkung, Klettern, Biken und Skitouren waren die sich zu oft einig – zu unserem Nachteil. So lange sie also mit sich und dem Wolf beschäftigt sind, kommt wenigstens nichts Nachteiliges für uns Bergsteiger heraus.

Am Grünten soll ja eine neue Bahn gebaut werden, die das ganze Jahr über schaarenweise Touristen auf den eh schon ausgelasteteten Berg wirft. Nehmen wir mal an, du wärst das „Zünglein an der Waage“, wie würdest du dich entscheiden?

Ich hoffe, in diesem Pulverfass nie das Zünglein zu sein. Ich bin mir unsicher … Es gibt starke Argumente für und gegen eine neue Bahn. Vielleicht sollten sich die Akteure nochmals unvoreingenommen zusammen setzen um eine Lösung zu erarbeiten. Mit einer neuen Bahn an Stelle der alten, einer effektiven Beschneiung und einer neuen Grünten-Hütte kann ich gut leben, sofern das nicht zum Anlass genommen wird, andere Nutzergruppen, wie Kletterer, Tourengänger, Pilzsammler und Mountainbiker zu verdrängen. Einen alpinen Funpark, eine über das bisherige Niveau hinausgehende Erschließung lehne ich aber ab.

Hast du eigentlich Pläne für weitere Buch- oder Bergprojekte?

Einen Führer über alle Gipfel und klassischen Anstiege im Allgäu zu schreiben, so wie es in den alten Alpenvereins-Führern aus dem Rother-Verlag der Fall war. Mit Einstellung dieser Serie ist viel Wissen über die heimischen Berge verloren gegangen. Allerdings nur bis zum 3. Grad, ohne Skitouren, ohne richtiges Klettern sowie Tal- und Hüttenwanderungen. Das decken die Spezialführer ab.

Welchen Traum möchtest du dir einmal erfüllen?

Eine 7000er-Besteigung wäre schön …

Gibt es sonst noch etwas zu sagen, was dir wichtig erscheint?

Bleibt alle gesund und habt viel Spaß beim Bergsteigen in all seinen Spielarten!

Kristian, vielen Dank für’s Gespräch, und auch dir weiterhin viel Spaß in Bergen!